DIE BURG als Filmkulisse – Chilenischer DDR-Charme zwischen Gegenwart und Zukunft

Der leerstehende Luckenwalder Plattenbau am Burgwall wird zur deutsch-südamerikanischen Filmkulisse.

„Noch 15 Minuten… De acuerdo?… Ich muss kurz durch’s Bild… Jaa, wir lieben unseren Job… Jaa, schöne Standheizung… Sollte ich das nachher auch so betonen?… Gracias… Das Licht, sag mal schnell, passt das?… Genau, aus Ecuador… Hmm, nee, warte, ja, das Muster ist jetzt gut so… Ajuste la distancia, si, a la cámara… Soo Leute, drei Minuten… Ja, das wird ein sanfter Einstieg in die Szene… Können wir hier noch die leere Wand füllen?… Die Uhr läuft…“

Zwischen spanisch, deutsch und französisch wuseln, schneller als die Uhr ticken kann, Menschen durch gedimmtes Licht.

Der Uhrzeiger läuft weiter in Richtung Vergangenheit und wir befinden uns im Wohnzimmer der 70er Jahre. DDR. Oder? Ist es nicht Chile?
Ein Portrait hängt eingerahmt im Rechteck der graugrünen Raufasertapete. Einsam. Lediglich eine braune, runde Holzschale mit feinausgearbeitetem Muster hängt in gutem Abstand daneben. Das warmgelbe Licht taucht die Luft in eine diesige Hülle, durch die beobachtend die Augen des chilenischen Staatspräsidenten Salvador Allende starren.

Eine Hand durchkreuzt das Bild. „Mir ist es hier irgendwie noch zu leer. Habt ihr eine Idee, wie wir das füllen könnten?“, fragt eine Frauenstimme. Die Antenne eines Ghettoblasters wird ausgefahren. Er steht direkt unter dem Portrait auf einer feingestickten, weißen Tischdecke, die auf einer Kommode liegt. Ordentlich glänzen die Äpfel in einer Korbschale. Davor, zwei Bücher. Deutlich zu lesen ist der Titel „Georg Friedrich Händel“, auf dem anderen darunter lässt sich nur „Politische Portraits großer Komponisten“ entziffern.
Also doch Deutschland?

Wir sind tatsächlich in Deutschland. In Luckenwalde. Plattenbau mit DDR-Charme. Historie gehört dazu. Die Burg, das eigentliche Modernisierungs-Bauprojekt der Luckenwalder Wohnungsgesellschaft, beweist es: am Freitag den 19. März 2021 wurde es zur Filmkulisse. Ein Glück für die deutsch-chilenische Filmemacherin Mariella Santibáñez, dass der Plattenbau am Burgwall noch steht.
Dort drehte sie mit ihrem studentischen Team der Hochschule für Fernsehen und Film München den Film „Neuanfang“. Er basiert auf der Biografie ihres chilenischen Vaters, der aus politischen Gründen als wissenschaftlich-medizinischer Gastarbeiter in die DDR flüchtete.
Für eine Wohnraumszene suchte sie in Luckenwalde einen Drehort mit möglichst originellem DDR-Charakter. Und schwuppdiwupp durchlief sie in den vergangenen Wochen mit Andreas Schröder, dem Leiter der Wohnungswirtschaft der Luckenwalder Wohnungsgesellschaft, nahezu alle 209 Wohnungen des leerstehenden Gebäudekomplexes. Was sie von der letztendlichen Wohnung überzeugte? Die original Lichtschalter, der bräunlich, quietschende Linoleumboden, die Plattenbaufassade als Aussicht aus dem Fenster im Hintergrund. 

Es lässt sich kaum vermuten, dass sich hinter den kahlen, grauen Wänden des Luckenwalder Plattenbaus ein lebendiger Raum verbirgt. Doch führten die staubigen Treppen in eine vergangene Welt aus braun-kantigen Regalen, mattfarbigen Polstersessel, Fliesen vortäuschendem Linoleum und grünen, großblättrigen Topfpflanzen. Die Requisite und Szenenbildner haben volle Arbeit geleistet. Das Set wurde sogar nochmal gemalert und tapeziert. Am Freitagmorgen hat die Wohnungsgesellschaft noch schnell mit ein paar Möbeln ausgeholfen. Als ehemaliges Ost- und Wendekind weiß Mariella, welche Atmosphäre herrschen muss. 
Detailverliebt arrangiert Mariella mit ihrem Team die letzten Postkarten oder Briefe, die sie aus einer alten, dunkelbraunen Holzkiste rausholen. Auf dem Balkon werkelt das Lichtteam zwischen Scheinwerfern, Klemmen und Kabeln, ein Kopf mit Stirnlampe blitzt hinter Moltonstoffen hervor.

Der Mann auf der Leiter ruft zur gegenüberliegenden Wohnzimmertür: „Passt das Licht so?“, wo Manu, der Kameramann, die sich parallel verschiebenden Schattenmuster auf den Wandschränken beobachtet und „Top“ antwortet. Im abgedunkelten Hinterzimmer steht ein Monitor, wo später Mariella mit ihrer Regie-Assistentin die Szene beobachten wird. Assistenten und Techniker wirbeln durch die schmalen, dunklen Wohnungsflure und schleppten noch fehlendes Material in einen mit Technik überfülltes Zimmer. Ein eher ruhiger Rückzugsort: das provisorisch eingerichtete Ankleide-Make-Up-Zimmer. Die Berliner Schauspielerin Eugénie Anselin schminkt sich in der hinteren Ecke zwischen Kostüm und Standheizung. Direkt daneben geht Nils Rovira-Muñoz, Schauspieler aus Hannover mit ecuadorianischen Wurzeln, eingewickelt in Decken das Drehbuch durch. Etwas bibbernd, aber leidenschaftlich. Sie lieben ihren Job. 
Auch Mariellas Passion für ihr Schaffen wird deutlich. Es geht um mehr als nur die thematische Behandlung und das Verstehen ihrer eigenen Wurzeln durch die Familiengeschichte. Ein zentraler Antrieb für den Film ist die Frage: „Was passiert eigentlich danach, wenn man wieder zurückkehrt, nach der Flucht?“. Viel mehr will sie, basierend auf den Erzählungen ihres Bruders, eine fiktive Rolle ihres Vaters kreieren und somit durch eine persönliche Perspektive eine Parallele zur heutigen Welt schaffen. Flucht, Weitermachen, Rückkehr – Historie zwischen Gegenwart und Zukunft in einem Film über die DDR und Chile aus deutsch-chilenischer Sicht. Und Luckenwalde darf ein Teil davon sein.

Fotos und Text: Laura Maria Görner